Donnerstag, 21. Januar 2010

Grunebaum über Wissenschaft im Islam


Es gibt zwei moderne Mythen, die Feuilletonisten und Funktionäre des politischen Islam immer wieder aufleben lassen: der eine ist Al Andalus, Spanien unter islamischer Herrschaft, der andere ist die kulturelle und wissenschaftliche Blütezeit des sogenannten Hochislam. Während Al Andalus immer wieder als Idealentwurf einer "multikulturellen" Gesellschaft bemüht wird, freilich ohne auf den Status der Juden und Christen als Dhimmis und die Rolle der Scharia in der Gesellschaftsordnung hinzuweisen, wird der Hochislam dazu gebraucht, kritische Stimmen mit der Behauptung zurechtzuweisen, dass "der Islam" all das nicht sei, was ihm vorgeworfen wird. Weshalb "der Islam" nach einer kurzen Phase der Innovation erst in Stagnation und dann in Regression verfiel, wenn er doch die freien Wissenschaften "begünstigt" oder gar erst möglich macht - schließlich werden die Leistungen herausragender Gelehrter wie Avicenna oder Averroes immer wieder pauschal "dem Islam" zugeschlagen - erscheint daher als ungelöstes Rätsel. Einigkeit besteht darüber, dass der westliche Kulturimperialismus "den Islam" in seiner kulturellen Entwicklung gehindert habe; nach Gründen des schleunigen Verfalls, die in der islamischen Kultur und Weltanschauung selbst ihre Wurzeln haben, wird in der veröffentlichten Meinung kaum gefragt.
Einen differenzierteren Blick auf den Rang der Wissenschaft innerhalb des islamischen Systems wirft der Orientalist Gustav Edmund von Grunebaum (1909-1973) in seinem Werk Der Islam im Mittelalter (Zürich 1963):
Es ist billig, aber ein wenig irreführend, die wissenschaftliche Leistung des islamischen Kulturkreises nach den hervorragenden Errungenschaften einer Handvoll außergewöhnlicher Männer zu beurteilen. Es ist billig, weil der ungewöhnliche Beitrag fortlebt, ferne Generationen zu beeinflussen, irreführend aber mit Hinblick auf die Einstellung, die der durchschnittliche muslimische Forscher seiner Arbeit entgegenbringt. In seinen Augen waren die Wissenschaften letzten Endes ein stabiles System formaler und materialer Wahrheiten, die zu (nach unserer Ausdrucksweise) vorhistorischen Zeiten dem Menschen zur Aufbewahrung übermittelt worden waren. Ibn al-Qifti (gest. 1248) erklärt:
„Die Gelehrten der verschiedenen Nationen, umam, sind in der Frage uneins, wer als erster über Weisheit, hikma, und ihre Pfeiler, Propädeutik, rijada, Logik, natürliche und theologische (physische und metaphysische) Wissenschaften (tabii, ilahi) diskutiert hat, wbobei jede Gruppe (diesen Pionier) unter ihrem eigenen Volk zu finden weiß. In Wirklichkeit aber ist keiner von diesen der erste gewesen. Als die Forscher die Frage gründlich untersucht hatten, begriffen sie, daß dieser (Anfang wissenschaftlicher Erkenntnis) prophetisches Wissen, nubuwwa, war, das auf Idris (Henoch) herabgesandt worden. All die Bahnbrecher, awail, die in den verschiedenen Teilen der Welt angeführt werden, haben ihre Kenntnisse aus den Berichten seiner Schüler oder der Schüler seiner Schüler.“
Im gleichen Geist hatte Ibn Hazm zwei Jahrhunderte früher gelehrt: „Wir wissen mit absoluter Sicherheit, daß kein Mensch an Wissenschaften und Künste aus eigenem herankommen hätte können, nur von seinem natürlichen Ingenium geleitet und ohne Unterweisung. (Das gilt beispielsweise für) die Medizin, die Kenntnis der Temperamente, die Krankheiten und ihre Ursachen in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit, und die Auffindung ihrer Heilbehandlung mit Hilfe von Medikamenten, aqaqir, die in ihrer Gesamtheit niemals hätten ausprobiert werden können. Denn wie hätte jedes Medikament an jeder Krankheit versucht werden können, wo ein solches Vorgehen doch zehntausend Jahre erfordert und die Untersuchung jedes einzelnen Kranken auf der Welt notwendig machen würde?“ Und was für die Menschen gilt, gilt auch für die Astronomie, usw.
Der Herr hatte der Menschheit dieses Wissen geschenkt, auf daß sie seinen Ruhm in den Wundern der Welt begriffe. So waren denn letztes Ziel und letztes Ergebnis aller Forschung vorgegeben. Studien, die nicht mit der richtigen Gesinnung durchgeführt wurden oder zu unerwarteten metaphysischen Schlußfolgerungen leiteten, trugen den Makel der Häresie. Die sich dem griechischen Ideal einer einzig vom Verlangen nach Wahrheitsfindung motivierten Forschung ergaben, konnten nicht zahlreich sein in einer Geistes- und Gesellschaftsordnung, deren Stabilität, oder besser: deren Fortbestand an der unausgesetzten Rechtfertigung geoffenbarter Einsichten in die Wirklichkeit hing.
Der Psalmist hatte verkündet: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.“ Der Syrer Barhadbsabba von Halwan (blühte um 600) hatte erklärt: „Drei Dinge sind der Natur vernunftbegabter und zur Ausführung des Guten erschaffener Wesen hinderlich: das Böse, die Unwissenheit und die Schwäche.“ Wissen rechtfertigt sich durch seinen ethischen und erzieherischen Wert. Es beginnt und endet mit Bewunderung für den Schöpfer und Verständnis seiner Gesetze.

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